Wie Sozialisten den Kapitalismus prägten
Im zweiten Teil dieser Analyse wurde zu zeigen versucht, weshalb es für das eigentliche Verständnis unseres heutigen Geldsystems und dessen spezifischen Eigenschaften wenig sinnvoll ist, in der Kritik desselbigen zwischen Staat, Zentralbank und Geschäftsbank zu unterscheiden. Alle drei Akteure sind für die in Teil Zwei beschriebene «monetäre Revolution» unabdingbar und haben die von der natürlichen Knappheit losgelöste Kreditgeldschöpfung erst ermöglicht. Das moderne Geld- und damit auch das Wirtschaftssystem ist auf der Grundlage staatlicher und privater Schulden, Privilegien und Währungsmonopole errichtet worden.
Dennoch wird in der heutigen Debatte um das Geldsystem – wie im ersten Teil beschrieben – allzu gerne ideologisch motivierte Teilkritik betrieben. Wir erinnern uns: Die Vollgeldverfechter betrachten die Geschäftsbanken als die alleinigen Einheiten, welche das Geldsystem und damit unsere Wirtschaft fragil und instabil machen. Die Zentralbanken auf der anderen Seite halten sie gerade für diejenigen Institutionen, die das System so gut wie möglich zu stabilisieren versuchen würden. Wie in den ersten beiden Teilen dieser Analyse bereits darauf hingewiesen wurde, stimmt es natürlich, dass die Geschäftsbanken mit ihrer Kreditgeldschöpfung für Instabilität sorgen. In dieser Hinsicht ist den Vollgeldsympathisanten beizupflichten. Gleichwohl wurde im ersten Teil dieser Analyse darzulegen versucht, wie das Ausmass der Kreditgeldschöpfung der Geschäftsbanken ultimativ durch das Handeln der Zentralbanken bestimmt wird und sich dadurch eine Folge der Verflechtung zwischen Staat, Geschäfts- und Zentralbank – der «monetären Revolution» – ergibt.
Es ist dieses Phänomen der «monetären Revolution», das gemeinhin kaum verstanden oder gar missverstanden wird. So ist es nicht nur die Meinung der Vollgeldler, sondern gilt auch als die geschichtlich allgemein anerkannte Auffassung, dass mit dem Aufkommen der Aktien- und Mobilkreditbanken Mitte des 19. Jahrhunderts der Kapitalismus seinen Anfang genommen hätte. Denn überall auf dem europäischen Kontinent begannen diese Banken im grossen Stil, die Industrie – allen voran die Eisenbahnen – mit Mobilkrediten zu fördern und somit die Industrialisierung voranzutreiben.
Was auf den ersten Blick tatsächlich wie die Geburtsstunde des Kapitalismus auszusehen scheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als weit verbreitetes Trugbild. In Tat und Wahrheit ist eine politische Ein- und Zuordnung der Ereignisse kaum so klar und einfach machbar, wie das hinlänglich getan wird. Die Bestrebungen und Absichten zur Industrialisierung beträchtlicher Wirtschaftszweige fusst keineswegs auf einem rein «kapitalistischen» Ideenfundament. In der Betrachtung desjenigen intellektuellen Klimas – als die Industrialisierung durch die vermeintlich kapitalistische Maschinerie eben gerade ins Rollen gebracht wurde – fällt auf, dass dieses stark durch Gedanken und Ideen geprägt war, die eine unvoreingenommene Person unserer heutigen Zeit wohl als sozialistisch bezeichnen würde. Der Nobelpreisträger und Universalgelehrte Friedrich August von Hayek schildert diese ideengeschichtlich kaum bekannte Verbindung wie folgt:
Die Begründer des modernen Sozialismus haben auch viel dazu beigetragen, dem kontinentalen Kapitalismus seine eigentümliche Form zu geben; Monopolkapitalismus oder Finanzkapitalismus, die sich durch die enge Beziehung von Bankwesen und Industrie entwickelten (die Banken organisierten als die grössten Anteilbesitzer der einzelnen Firmen die industriellen Konzerne), die rasche Entwicklung von Aktiengesellschaften und die grossen Eisenbahnsysteme sind grösstenteils saint-simonistische Schöpfungen. (F. A. Hayek)
Gewissermassen als «realistische» Nachahmer des utopischen Sozialismus des 18. Jahrhunderts machten sich etliche, häufig als autoritative Sozialisten bezeichnete Intellektuelle daran, sich eine ideale Welt auszudenken. Realistisch deshalb, weil sie der festen Überzeugung waren, dass sich deren Ansatz auch tatsächlich verwirklichen lassen müsse. Einer religiösen Überzeugung und Zuversicht gleich glaubten sie, mit rationaler und exakt durchdachter Vorgehensweise die Gesellschaft nachhaltig umgestalten zu können. Der deutsche Historiker Heinrich Sieveking beschreibt deren Zugang so:
Saint-Simon wollte eine neue Science générale begründen. Diese physiko-politische Richtung läuft hinaus auf die Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode auf die menschliche Gesellschaft. (Heinrich Sieveking)
Als Urheber dieser prägenden Gedanken gilt Claude-Henri de Rouvroy, Comte de [Graf von] Saint-Simon. Mit seinen Ideen war Henri de Saint-Simon einer der wichtigsten Vorreiter des Sozialismus. Zwar distanzierte sich Karl Marx später von ihm, dessen Weggefährte Friedrich Engels jedoch lobte den Grafen von Saint-Simon für dessen Gedanken. Für die Sowjets wurde er sogar zu einer Art Leitfigur. Der Grund, weshalb sich heute wohl kaum mehr ein Sozialist auf Henri de Saint-Simon bezieht, mag daran liegen, dass dieser einen regelrechten Kult begründet hatte – was wohl viele Sozialisten dazu bewegte, in ihm einen verrückten Fanatiker zu sehen. Nichtsdestotrotz hat Henri de Saint-Simon bekennende sowie verkappte Sozialisten (letztere sind Sozialdemokraten) mit seinen Leitgedanken massgeblich beeinflusst – auch wenn sich viele dieser Beeinflussung nicht bewusst sind. Denn die Intention und Vorstellung, gesellschaftlich spontane Phänomene mittels zentralistischer Hand steuern und organisieren zu wollen, ist auch heute noch die tief verankerte Maxime des sozialistischen Denkens. Es waren Saint-Simon und seine unmittelbaren Nachfolger, die diese Haltung erstmals wirklich systematisch ausformulierten. Während heutige Sozialisten in ihren Pamphleten und Schriften weitaus schwammiger und damit weniger ehrlich sind, ist das Bestreben der Zentralisierung und Lenkung bei Frühsozialisten wie Saint-Simon noch in äusserst expliziter Sprache ausgedrückt, wie Friedrich August von Hayek, der die Schriften und Saint-Simon und die dazu gehörende Literatur eingehend studiert hat, beschreibt:
Die «Soziale Institution», welche diese Funktionen (für das Gesamtwohlbefinden aller Klassen und Menschen zu sorgen) zu erfüllen hat, ist (bei Saint-Simon) nicht unklar und unbestimmt gelassen wie bei den meisten späteren Sozialisten. Sondern es ist das Banksystem, entsprechend umgebildet und zentralisiert und gekrönt von einer einzigen «banque unitaire, directrice», das als die planende Körperschaft dienen soll: Die soziale Institution der Zukunft wird alle Industrien lenken, im Interesse der ganzen Gesellschaft und insbesondere des friedlichen Arbeiters. Wir nennen diese Institution vorläufig das allgemeine Bankensystem, mit allem Vorbehalt gegen zu enge Auslegungen, die man dieser Bezeichnung geben könnte. Das System wird in erster Linie eine Zentralbank umfassen, welche für den Bereich der materiellen Güter die Regierung konstituiert; diese Bank wird die Verwahrerin allen Vermögens, der ganzen produktiven Mittel, aller Produktionswerkzeuge, kurz, all dessen werden, was heute die Gesamtheit des Privateigentums ausmacht. (F. A. Hayek)
Für den Grafen von Saint-Simon und seine Anhänger war klar, dass die Wirtschaft, die Finanz- und Industriewelt durch zentralistische Hand geführt werden muss, um bestmögliche Effizienz und grösstmöglichen Ertrag erreichen zu können. Denn entgegen den zeitgenössischen Parolen des modernen Sozialismus versprach der Frühsozialismus den Menschen, jenes System zu sein, das am schnellsten und effektivsten Wohlstand für alle generieren würde, ohne dabei sonderlich auf kleinbürgerliche Anliegen wie Umwelt und Ethik Rücksicht zu nehmen müssen. Frei nach der Devise «Wo gehobelt wird, da fallen Späne» pochten diese ersten Sozialisten auf mehr Entwicklung, mehr Industrialisierung, mehr Wirtschaftswachstum. Als notwendige Bedingungen setzten sie voraus:
Das «système général des banques», das es im folgenden zu entwerfen gilt, ist das Bild einer vollständig durchgeführten Planwirtschaft, in die sich eine Bankorganisation leitend eingliedert. Das Banksystem besteht aus einer «banque centrale», die den Kapitalstrom in alle Wirtschaftszweige lenkt, und den ihr untergeordneten «banques spéciales». (Kurt Moldenhauer)
Obwohl der Graf von Saint-Simon in der praktischen Umsetzung seiner Ideen selbst weniger erfolgreich war, reüssierten seine Nachahmer und Nachfolger erster, zweiter oder auch dritter Generation. Die wohl einflussreichsten waren die Gebrüder Péreire, jüdische Bankiers portugiesischer Herkunft. Helen Davies, die zahlreiche französische Archive durchforschte, um die Gebrüder Péreire in ihrem lesenswerten Buch «Emile and Isaac Péreire: Bankers, Socialists and Sephardic Jews in Nineteenth-century France» zu porträtieren, schreibt:
Fasziniert von den Lehren des Ökonomen und Philosophen Claude-Henri de Rouvroy, Comte de Saint-Simon, trugen sie (Brüder Péreire) Signifikantes zum Saint-Simonianismus bei, die heranwachsende Philosophie, deren Ziel es war, die sozialen, ökonomischen und finanziellen Gegebenheiten zu reformieren. […]
Aufgrund des durch Saint-Simon vermittelten Verständnisses war ihnen klar, dass eine Eisenbahn natürlich noch nie da gewesene Mengen an Geld brauchen würde, weshalb sie die erste Investmentbank in Europa gründeten, die Crédit Mobilier. Durch eine innovative Organisationsstruktur wurde die Bank zur Dachgesellschaft von mehreren Unternehmen, in welchen die Bank investiert war. Die Brüder Péreire initiierten den ersten regulären Schiffstransport zwischen Le Havre und New York und den ersten regulären Postservice zwischen Frankreich und Nordamerika. Zudem gründeten sie auch eines der ersten Warenhäuser in Paris; Les Grands Magasins du Louvre. (Helen Davies)
Auch bei Professor F. A. Hayek lassen sich faszinierende Fakten über das Leitmotiv sowie den Einfluss der Brüder Péreire nachlesen:
Die Geschichte dieser Entwicklungen ist hauptsächlich eine Geschichte der Banken vom Typ des Crédit Mobilier, kombiniert Deposit- und Investitionsunternehmungen, wie sie zuerst von den Brüdern Péreire in Frankreich ins Leben gerufen wurden und dann unter ihrem persönlichen Einfluss oder von anderen alten Saint-Simonisten fast auf dem ganzen europäischen Kontinent nachgeahmt wurden. Man könnte fast sagen, dass die Saint-Simonisten, nachdem der Versuch, die von ihnen gewünschten Reformen durch eine politische Bewegung herbeizuführen, gescheitert war, oder nachdem sie älter und welterfahrener geworden waren, begannen, das kapitalistische System von innen zu verändern und so durch persönliche Bemühungen von ihrer Doktrin so viel wie möglich zu verwirklichen suchten. Und es kann nicht geleugnet werden, dass es ihnen gelungen ist, die wirtschaftliche Struktur der kontinentalen Länder in etwas ganz anderes umzugestalten, als es etwa der englische wettbewerbliche Kapitalismus ist. Auch wenn der Crédit Mobilier der Péreires schliesslich fehlschlug, so wurde er und seine Industriekonzerne das Modell, nach dem das Bankwesen und die Kapitalstruktur in den meisten Industrieländern Europas, teilweise von anderen Saint-Simonisten, entwickelt wurde. Für die Péreires war es sehr eindeutig das Ziel ihres Crédit Mobilier, ein Administrations- und Lenkungszentrum zu schaffen, das alles nach einem einheitlichen Plan lenken sollte, die Eisenbahnnetze, die Städteplanung und die verschiedenen öffentlichen Unternehmungen und andere Industrien, die sie durch eine systematische Politik der Fusion zu einigen wenigen grossen Unternehmungen zusammenzulegen suchten. (F. A. Hayek)
Saint-Simon und seine Nachahmer erkannten das Potenzial, die Gesellschaft über ein Bankensystem nachhaltig umzugestalten. Wie kaum jemand vor ihnen unterstrichen sie die Wichtigkeit der Kreditpolitik als Mittel der Gesellschaftsreform, was sie letzten Endes eben doch zu allzu realistischen Sozialisten machte und ihren Ideen eine enorme Wirkungskraft verlieh. So verstanden sie die Mittel und instrumentalisierten diese zur Realisierung ihrer Ziele:
Der Saint-Simonismus war nicht kapitalfeindlich. Nur sollte das Kapital nicht einzelnen, sondern der Gesamtheit zugute kommen. (Heinrich Sieveking)
Die saint-simonistische Lehre bezweckte die Ermächtigung der industriellen Klasse, zu denen sie die Gelehrten, die Unternehmer sowie die Arbeiter zählte. Diese soll befähigt werden, die Geschicke effizient für die Gesellschaft zu lenken, um so Harmonie und eine geeinte Gesellschaft zu schaffen. Nicht etwa über eine Revolution sollte diese egalitäre und im Kern sozialistische Gesellschaftsreform erreicht werden, sondern indem die Gesellschaft die Reform über die ihr zur Verfügung stehenden Mittel selber vorantreibt:
Gesellschaftsreform bezeichnet in dem hier gültigen Sinne eine evolutionäre, von den gegebenen historischen Voraussetzungen und Entwicklungstendenzen ausgehende Umwandlung der Sozialordnung, im Gegensatz zur sozial-ideologischen Ableitung der revolutionären Konstruktion. (Kurt Moldenhauer)
Der wichtigste Meilenstein war die Gründung der Péreire’schen Mobilkreditbank 1852, im selben Jahr, in dem sich Napoleon III. zum Kaiser krönen liess. Der eifrige Kaiser war sodann erpicht darauf, die Crédit Mobilier für seine zentralistische Wirtschaftspolitik und die Industrialisierung Frankreichs zu gebrauchen. Für den Staat war dieser neue Typ Bank von grossem Interesse, wie der bereits im zweiten Teil zitierte Historiker Adolf Beer aufmerksam feststellte:
In Regierungs- und Finanzkreisen versprach man sich von dem neuen Institute (Crédit Mobilier) Ausserordentliches und ward nicht müde, die ohnehin schon hoch gespannten Erwartungen noch mehr anzufachen und zu steigern. In einem Berichte an den damaligen Präsidenten der Republik hob einer der vertrautesten Rathgeber des künftigen Kaisers die Nützlichkeit einer Anstalt hervor, welche der Bank von Frankreich zur Seite gestellt werden sollte, und «die ganz andere Richtungen einschlägt, indem sie auf dem Gebiete des Handels und der Industrie die Initiative ergreift.» (Adolf Beer)
Überall auf dem Kontinent Europa entstanden Banken nach dem Vorbild der Crédit Mobilier. Insbesondere bei Helen Davies ist nachzulesen, welche Länder im Spezifischen von dieser Welle erfasst worden waren – es waren nicht wenige:
Die Tätigkeiten und Aktivitäten der Gebrüder Péreire waren nicht bloss auf Frankreich beschränkt. Sie standen auch hinter Banken und Eisenbahnen in Spanien, Deutschland, Italien, Niederlanden, Russland, Schweiz und Österreich-Ungarn sowie dem Osmanischen Reich. (Helen Davies)
In Anbetracht dieses Einflusses der Brüder Péreire und ihrer Crédit Mobilier, die sich wiederum auf ihren intellektuellen Übervater Henri de Saint-Simon und seine Schüler beriefen, liegt Friedrich August von Hayek wohl nicht ganz falsch, wenn er schreibt:
Es ist heute nicht leicht, das ungeheure Aufsehen nachzuempfinden, das die saint-simonistische Bewegung für eine Reihe von Jahren verursachte, und zwar nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa, oder das Ausmass des Einflusses richtig einzuschätzen, den diese Lehre ausgeübt hat. Aber es kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, dass dieser Einfluss viel grösser war, als gewöhnlich angenommen wird. (F. A. Hayek)
Aufgrund der ideengeschichtlichen Fakten ist man dazu geneigt, Hayek zuzustimmen. Es entspricht in der Tat nicht den historischen Gegebenheiten, die Entwicklung der Finanz- und Bankenwelt in Mitteleuropa als lupenrein kapitalistische Entwicklung einzustufen. Die Industrialisierung kam eben nicht bloss über den Markt, sondern wurde von Staat und Banken gemeinsam betrieben. Gerade beim allgemeinen Begriff «Banken» gilt es in der Aufarbeitung und Beschreibung der Ereignisse diesbezüglich, eine Trennlinie zwischen den Arten zu ziehen – im vollen Bewusstsein, dass sich eine solche in der Realität wohl kaum so exakt nachzeichnen lässt. Von den beschriebenen Industrie- und Mobilkreditbanken sind die Handelswechselbanken sowie die Privatbankiers zu unterscheiden, die seit dem Beginn der frühen Neuzeit auf die Finanzierung von Handelsprojekten fokussierten, dies mit grossem Erfolg machten und gleichzeitig für einen realen Wohlstandsanstieg sorgten. Es sind diese Bankiers und Finanzinstitute, welche Beobachtern der englisch-schottischen Aufklärung wie Adam Smith ins Auge gesprungen sind und von ihnen dann detailliert beschrieben wurden. Erst im Zuge der in Teil Zwei ausführlich geschilderten «monetären Revolution» sind eben auch jene Banken nach saint-simonistischem Vorbild entstanden. Auch diesen ist die Schaffung von Wohlstand nicht abzusprechen, nur aber handelte es sich dabei um eine Wohlstandsschöpfung mit Nebenwirkungen. Mit der Beschleunigung der Produktivkräfte über eine übermässig forcierte Kreditgeldmengenschöpfung durch die Mobilkreditbanken wurde die klassische Bankentheorie gewissermassen ausgehebelt und Verzerrungen, die sich später und bis heute immer wieder zeigen würden, in Kauf genommen. Ob sich die Umsetzer der saint-simonistischen Lehre dieser Tendenz bewusst waren oder aus Unwissen und Fahrlässigkeit in diese hineinschlitterten? Wohl eher Letzteres, zumal sich auch ihre Absichten nicht alle wie gewünscht einstellten: Der Typus des industrialisierten Wirtschaftsmenschen sowie die weitestgehende Lenkung des Wirtschaftsgeschehens durch ein Bankenkartell sind Wirklichkeit geworden. Nicht aber die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und Gleichverteilung des Kapitals:
Es darf aber nicht verkannt werden, dass diese im allgemeinen Interesse geschaffenen Einrichtungen (Banken im Stile der Crédit Mobilier) den Kapitalbesitzern überwiegende Vorteile verschafften und so nicht, wie ursprünglich geplant, eine Neuorganisation der ganzen Gesellschaft bringen, sondern den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit verschärften. (Heinrich Sieveking)
So liefen die saint-simonistischen Bestrebungen ihren eigenen Zielen zuwider. Die saint-simonistische Schöpfung des Monopol- und Finanzkapitalismus spielte einigen wenigen in die Hände, während die Kluft zur arbeitenden Bevölkerung grösser wurde. Bezeichnend und wenig verwunderlich ist, dass auf die ersten Sozialisten saint-simonistischer Prägung dann Marx und Engels folgten, die fälschlicherweise das saint-simonistische Hybridsystem als Kapitalismus verunglimpften, und eben nicht erkannten, dass die Wirtschaft über eine ungesunde Kreditgeldmengenausweitung stets zu schnell aufgeblasen wurde und bis zum heutigen Tage immer noch wird. Es ist diese künstlich angefachte Dynamik, welche die systematischen Ungleichheiten verstärkt und die Menschen dann zurecht anzuprangern beginnen – damals wie heute. Bedauerlich dabei ist, dass die wenigsten den eigentlichen Zusammenhang sowie die tatsächliche Ursache verstehen. Allzu leichtfertig bedient man sich der gängigen Klischees und hält den Kampfbegriff «Kapitalismus» für das einzig wahre Übel.
An dieser einseitigen Sicht auf die Dinge sind auch die Liberalen nicht ganz unschuldig. So haben auch diese dazu beigetragen – entweder aktives Dafürhalten oder aber durch Passivität in der Debatte –, dass sich die allgemeine Sicht durchgesetzt hat, wonach das 18. sowie vor allem das 19. Jahrhundert zur Blütezeit des klassischen Liberalismus gehörte. Gewissermassen stellvertretend für die zahlreichen Lehrbücher, in welchen diese Auffassung abgedruckt ist, soll an dieser Stelle eine der renommiertesten Enzyklopädien, die Encyclopædia Britannica, zitiert werden:
Theoretisch als auch praktisch wurde der Liberalismus zur Grundlage des 19. Jahrhunderts und somit zur bedeutendsten Bewegung in Europa. […] Auf dem alten Kontinent war der Liberalismus die verändernde Kraft. Industrialisierung und Modernisierung, wofür der klassische Liberalismus die ideologische Rechtfertigung bot, führte zu grossen Veränderung. Das Feudalsystem brach zusammen, eine funktionslose Aristokratie verlor ihre Privilegien und Monarchen wurden herausgefordert und gestürzt. Der Kapitalismus trat an die Stelle statischer Ökonomien des Mittelalters und die Mitteklasse war frei dabei, ihre Lebensenergien in die Produktion von Gütern zu stecken, um so den Wohlstand der Gesellschaft zu erhöhen. (Encyclopædia Britannica)
Gewiss enthält diese Beschreibung einen Kern Wahrheit. Diese Wahrheit ist jedoch nicht eindimensional. Wie die Geschichte der Menschheit zeigt, ist die Ideengeschichte und somit auch die Wirklichkeit stets von allerlei Paradoxien, Widersprüchen und Unschärfe durchsät. Immer schon – und das ist heute nicht anders – hat sich Gegenteiliges vermengt. Auch in der Zeit der tatsächlichen und zugleich vermeintlichen Hochblüte des klassischen Liberalismus war nicht alles so liberal, wie es hätte sein sollen. Gerade einer der wohl grossartigsten liberalen Ökonomen und Denker, Ludwig von Mises, scheint diese Widersprüchlichkeit erkannt zu haben, zumal er sein Buch Liberalismus mit folgenden Worten beginnt:
Die Philosophen, Soziologen und Nationalökonomen des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts haben ein politisches Programm ausgearbeitet, das zuerst in England und in den Vereinigten Staaten, dann auf dem europäischen Kontinent und schließlich auch in anderen Teilen der bewohnten Welt mehr oder weniger zur Richtschnur der praktischen Politik gemacht wurde. Ganz durchgeführt wurde dieses Programm nirgends und zu keiner Zeit. Selbst in England, das man als die Heimat des Liberalismus und als das liberale Musterland bezeichnet, ist es nie gelungen, alle Forderungen des Liberalismus durchzusetzen. Vollends in der übrigen Welt hat man immer nur Teile des liberalen Programms übernommen, andere nicht minder wichtige Teile aber entweder von vornherein zurückgewiesen oder doch wenigstens nach kurzer Zeit wieder verleugnet. Man kann eigentlich nur mit einiger Übertreibung davon sprechen, dass die Welt einmal eine liberale Ära durchgemacht hat. Seine volle Wirkung hat der Liberalismus nie entfalten können. (Ludwig von Mises)
Obwohl es das Verständnis vereinfachen würde und wir unsere eigenen Ideologien besser bestätigen könnten, lässt sich in der Geschichte kaum jemals feinsäuberlich zwischen Markt und Staat trennen. Der Gegensatz zwischen Markt und Staat ist bloss ein Scheingegensatz. Bedauerlicherweise wird dieser Umstand heute an Universitäten sowie auch in der Politik ausgeblendet, was Polarisierung und Ideologisierung immer weiter vorantreibt, keinerlei Erkenntnis stiftet und somit wenig konstruktiv ist.
In einem vierten Teil dieser Analyse wird die vermeintlich kapitalistische Industrialisierung in der Schweiz etwas genauer unter die Lupe genommen. Insbesondere für den oft für sein wirtschaftsliberales Gedankengut gelobte Alfred Escher gilt es, dessen Denken und Handeln kritisch zu beleuchten, um allfällige blinde Flecken saint-simonistischer Prägung und Beeinflussung ausfindig zu machen.
Literatur:
Beer, Adolf. Geschichte des Welthandels. Wien: W. Braumüller, 1860.
Encyclopædia Britannica, Classical Liberalism.
Davies, Helen. Emile and Isaac Pereire: Bankers, Socialists and Sephardic Jews in Nineteenth-century France. EH.Net, 2016.
von Hayek, Friedrich A. Missbrauch und Verfall der Vernunft. Tübingen: Mohr Siebeck, 2004.
Sieveking, Heinrich. Grundzüge der neueren Wirtschaftsgeschichte: Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 1928.
von Mises, Ludwig. Liberalismus. Jena : Verlag von Gustav Fischer, 1927.
Moldenhauer, Kurt. Probleme der Weltwirtschaft: Kreditpolitik und Gesellschaftsreform. Jena: Verlag von Gustav Fischer, 1932.
Vergeot, J.B. Le Crédit comme stimulant et régulateur de l’ industrie. Paris : Jouve et Cie, 1918.