Alfred Escher : ein faustischer Unternehmer
Digitalisierung ist heute in aller Munde, sei es am Stammtisch, in Talkshows, an Universitäten oder im Feuilleton. Für einige ist die aktuelle digitale Revolution mit all ihren Facetten wahrscheinlich der grösste Umbruch in der Geschichte der Menschheit. In diesem Lager befindet sich eines der prominentesten Gesichter im deutschsprachigen Raum, der Lifestyle-Philosoph Richard David Precht. In seinem neuen Buch "Jäger, Hirten, Kritiker: Eine Utopie für die digitale Gesellschaft" warnt er vor den dramatischen Folgen einer digitalen Dystopie.
Gegen solche Stimmen wie Precht's tritt beispielsweise der Universitätsprofessor und Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann auf. Obwohl er nicht negiert, dass die Digitalisierung radikale Veränderungen mit sich bringen wird, betrachtet er die industrielle Revolution als einen viel tieferen Wendepunkt in der Geschichte als die digitale. Wer aus dieser Debatte als Sieger hervorgehen wird, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch beurteilt werden. Was aber mit Sicherheit gesagt werden kann: Die industrielle Revolution hatte Arbeit, die Gesellschaft und das Leben der Menschen grundlegend verändert. So deutet die derzeit dominanteste Geschichtsdeutung die Industrialisierung denn auch als Zündstoff und damit als Auftakt ins kapitalistische Zeitalter, in welchem wir uns auch heute noch befänden.
Eine Analyse der relevanten zeit- und ideengeschichtlichen Abschnitte lässt einen indes erkennen, dass die Entwicklung im 19. Jahrhundert kaum so eindeutig verlaufen und daher einer ideologischen Seite zuzuordnen ist. So fällt auf: Paradoxerweise waren es gerade Frühsozialisten, die in ihren Schriften das theoretische Fundament für die Industrialisierung legten. Gewissermassen im eklatanten Widerspruch zu heutigen sozialistischen Ideen verwiesen diese sozialistischen Vorläufer auf Mobilkreditbanken als unverzichtbarer Motor für eine allumfassende Industrialisierung der Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen. Denn nur über ein Netzwerk an verzahnten Mobilkreditbanken – an anderer Stelle auch Industrie- oder Aktienbanken genannt – liesse sich eine einheitliche Organisation von Wirtschaft und Industrie erreichen, die dann von zentralistischer Hand zum Vorteil aller geführt und gelenkt werden könnte, so die frühsozialistische Vorstellung. Die Frühsozialisten erhofften sich ein glorreiches industrielles Zeitalter – würde man nur allen Menschen den Zugang zu Krediten erlauben, würde eine jeder zum Unternehmer.
Liesse man die historische Marschrichtung der Industrialisierung durch einen ideengeschichtlichen Begründer des Kapitalismus beurteilen, so käme dieser wohl zum Schluss, darin das eigentliche Gegenteil des Kapitalismus zu sehen. Natürlich handelt es sich bei diesen ideengeschichtlichen Zuordnungs- und Benennungsversuchen letztlich um ohnehin subjektive Spitzfindigkeiten. Einigt man sich darauf, die Industrialisierung gleichwohl als rein kapitalistisches Projekt zu sehen, so hat man zumindest einzusehen, dass dieser Kapitalismus von Beginn weg beachtliche Geburtsfehler hatte, die unweigerlich negative Konsequenzen zeitigen würden.
Dieser ersten Sicht auf die Industrialisierung in Europa aus Teil 3 soll in diesem vierten Teil nun die industrielle Entwicklung in der Schweiz etwas genauer beleuchtet werden. Auch hierzulande herrscht die Meinung vor, dass mit der Industrialisierung eine kapitalistische Ära in der Schweiz ihren Anfang genommen hätte. Gestützt wird diese Ansicht durch den Umstand, dass diese Epoche der Industrialisierung unweigerlich mit einer Persönlichkeit verknüpft ist, die heute gemeinhin als radikal-liberal beschrieben wird: Alfred Escher, Gründervater der modernen Schweiz. Im wohl umfassendsten Werk über Alfred Escher von Historiker Joseph Jung wird Escher wie folgt beschrieben:
Alfred Escher: «der einsichtigste und verdienteste Staatsmann Helvetiens aus der neueren Zeit», «einer der genialsten Söhne», «bekanntesten ‹Männer› und hervorstechendsten Persönlichkeiten» der Schweiz, «eine Denksäule der Geschichte unseres Vaterlandes»; (Joseph Jung)
Kaum eine Persönlichkeit hat die moderne Schweiz so stark geprägt wie der Wirtschaftsführer und Politiker Alfred Escher. Ein anderer Schweizer Historiker, Markus Somm, schreibt über ihn:
Gut zwanzig Jahre lang, zwischen 1845 und 1869, wurde in der Schweiz nichts getan und nichts unterlassen, ohne dass Escher ein gewichtiges, das entscheidende Wort gesprochen hätte. (Markus Somm)
Doch wie ist es zu dieser Einflussnahme Eschers gekommen? Der gebürtige Zürcher, der an der Universität Zürich Rechtswissenschaft studierte, wurde just zu jener Zeit politisiert, als sich die politischen Machtkämpfe in der alten Eidgenossenschaft zwischen den Kantonen zuspitzten. Interessanterweise verlief die Spaltung der Mentalitäten und Ansichten innerhalb dieser politischen Kraftmeiereien jedoch nicht bloss entlang konfessioneller und damit geografischer Grenzen, sondern mitten durch Familien, Gemeinden und Kantone. Der im Sonderbundkrieg mündende Konflikt war eben nicht ausschliesslich konfessionell begründet. Der Historiker Joseph Jung meint dazu:
Der Kern des Problems lag im Gegensatz zwischen Konservativen und Radikal-Liberalen und drehte sich letztlich um die Frage, auf welche Art die Eidgenossenschaft politisch-infrastrukturell auszugestalten sei: föderalistisch oder zentralistisch. In beiden Lagern fanden sich Reformierte wie Katholiken. (Joseph Jung)
In diese Auseinandersetzung fühlte sich Alfred Escher regelrecht hineingezogen. Er schlug sich auf die Seite der «Radikal-Liberalen» und wurde schliesslich zu einer deren prägendsten Figuren:
Die radikal-liberale Partei, der sich Escher in Zürich anschloss, hatte 1844/45 die politische Wende vollzogen und war an die Schalthebel der Macht zurückgekehrt. Und innerhalb dieser Partei war Escher in den engsten Führungskreis aufgerückt. (Joseph Jung)
Doch hat die Bezeichnung «radikal-liberal» wenig mit unserem heutigen Verständnis dieses Begriffs zu tun. Während wir heute einen «Radikal-Liberalen» in erster Linie einen «Libertären» nennen, der für möglichst wenig (Zentral-)Staat eintritt, setzten sich die «Radikal-Liberalen» vom Schlage eines Eschers für die Einrichtung und Forcierung des Zentralstaates ein. Wenn auch der von den damaligen «Radikal-Liberalen» geforderte Zentralstaat in keiner Weise mit den Dimensionen des gegenwärtigen Zentralstaates zu vergleichen ist, so war die Stossrichtung für die «Radikal-Liberalen» und Escher klar:
Es war sein zentrales Thema, das ihn (Alfred Escher) während seiner ganzen politischen Tätigkeit nicht losliess: das Verhältnis zwischen zentralistischer und föderalistischer Ausgestaltung der Schweiz. Für ihn war unbestritten, dass die Machtvollkommenheit der vielen Kantone zugunsten einer grösseren Einheit des Landes abgebaut werden müsste. (Joseph Jung)
Bis zur Bundesstaatsgründung von 1848 war die Schweiz ein loser Staatenbund. Dieser non-zentralistische Geist der alten Eidgenossenschaft lebte auch unmittelbar nach der Schaffung des Bundesstaates weiter, waren die Eidgenossen immerhin während mehrerer Jahrhunderte so geprägt worden. Die «Radikal-Liberalen» rund um Escher merkten schnell, dass sich diese Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Kantone als Nachteil für eine Schweiz als einheitlicher Bundesstaat erweisen könnte:
Namentlich die strukturelle Beschaffenheit des eidgenössischen Staatenbundes mit seinen unterschiedlichen Masseinheiten, Währungen und Münzen und erst recht mit seinen kantonalen Zolleinheiten stand der Eisenbahnentwicklung (Grossindustrie und -wirtschaft) im Wege. (Joseph Jung)
Natürlich kam diese Sichtweise Eschers nicht von ungefähr. Es muss einen Grund gehabt haben, weshalb Alfred Escher und seine «radikal-liberalen» Mitstreiter zum Schluss kamen, aus dem non-zentralen Staatenbund Schweiz einen viel stärker zentralistisch organisierten Bundesstaat zu machen. Ausschlaggebend für Escher waren wohl vor allem sein etwas längerer Aufenthalt in Frankreich, das in Sachen grossflächiger, zentraler Orchestrierung der Industrie und Wirtschaft durch Mobilkreditbanken in Europa eine Vorreiterrolle eingenommen hatte:
Im Sommer 1843 kam er (Alfred Escher) von einem sechsmonatigen Aufenthalt in Frankreich nach Zürich zurück. In Paris hatten es sich Alfred Escher und Johannes Honegger zur hochfliegenden Aufgabe gemacht, die Eidgenossenschaft politisch-strukturell umzugestalten. Aus dem ihrer Ansicht nach verkrusteten und morschen Gebilde sollte eine moderne, radikale Schweiz werden. Entschlossen ging Alfred Escher nach seiner Rückkehr nach Zürich daran, diese Pläne in die Tat umzusetzen. (Joseph Jung)
Wer den alten eidgenössischen Staatenbund als verkrustetes und morsches Gebilde betrachtete und diese Gebilde daher modernisieren wollte, musste unweigerlich mit der alten Ordnung aufräumen. Für Alfred Escher stand die Schweiz somit am Scheideweg: Entweder würde man über nationale Eisenbahn-Bestrebungen Anschluss an das internationale Eisenbahnnetz suchen oder aber die Schweiz würde in die Isolation getrieben. Aus der Sicht Eschers hätte der helvetische Alpenstaat ohne verkehrstechnische Anbindung und ohne national geförderte Industrialisierung schwerwiegende Folgen für seine Wirtschaft und Wissenschaft in Kauf nehmen müssen.
In Anbetracht der damaligen Entwicklungen in ganz Europa ist diese Logik in sich stimmig und nachvollziehbar. Rund um die Schweiz drängten aufstrebende Nationalstaaten auf flächendeckende Industrialisierung. Um den Anschluss nicht zu verlieren, schien ein Nachziehen seitens der Schweiz unabdingbar. Die Situation lässt sich mit der gegenwärtigen vergleichen: Während die Schweiz zur Zeit Eschers unter wirtschaftlichem Druck stand, die europäische Entwicklung nachzuahmen, ist es heute vor allem politischer Druck, dem sich die Schweiz ausgesetzt sieht. Die einen argumentieren, dass die Schweiz nur eine Zukunft haben kann, wenn sie sich politisch der EU annähert. Andere halten dagegen und halten ein solches Vorgehen für langfristig kontraproduktiv, weshalb sie auf die grösstmögliche Unabhängigkeit der Schweiz pochen.
Vor einem ähnlichen Hintergrund ist wohl auch der Umbruch im 19. Jahrhundert zu sehen. Indem sich die Schweiz – unter massgeblicher Beteiligung Eschers und der «Radikal-Liberalen» – für den national- und grossindustriellen Weg entschied, liess sie sich wie das übrige Europa auf jenes «Experiment» der künstlichen Kreditgeldausweitung ein, das uns bis in die heutigen Tage immer wieder Krisen beschert hat. Doch die Entscheidung, diesen Weg zu beschreiten, fiel eben gerade deshalb – so die gängige Meinung –, weil die Schweiz zu jener Zeit eines der ärmsten Länder gewesen sei. Deswegen sei es nur logisch gewesen, dass sich die Schweiz von diesem Joch zu befreien versuchte.
Doch wie «arm» war die Schweiz wirklich? Einen etwas schalen Nachgeschmack erhält das obige Argument, wenn man beim Schweizer Sozialwissenschaftler und Publizist Beat Kappeler nachliest. So schreibt er, dass die Schweiz eben keinesfalls so arm gewesen sei, wie sie in den Geschichtsbüchern heute gerne dargestellt werde:
Zwar schworen die Vertreter der drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden den Bund Anfang 1291, aber es waren keine Bauern, sondern Grossbürger und Adelige vom Land. Schon 1332 trat die Stadt Luzern bei, 1351 Zürich, 1352 Zug, 1353 Bern – alles Städte! Bis 1513 folgten die Städte Freiburg, Solothurn, Basel, Schaffhausen und die kleinen Länder Glarus, Appenzell. Das war kein Bauernbund, wie die Bauerntümelei der 1930-Jahre es uns glauben liess. […] Und was trieben die drei Urkantone und andere sogenannte ländliche Gebiete? […] Sie verdienten bares Geld mit Säumen, Transporten, Schiffen, Wirtshäusern, Pferdewechsel. Sie kauften das fehlende Getreide von auswärts. Die europäischen Handelsströme durchzogen die Schweiz. Vom Schwarzen Meer fuhren Waren aus dem Transithandel bis Ulm auf der Donau, wurden auf Karren umgeladen bis Schaffhausen, dort wieder auf den Rhein gelassen bis Rotterdam. Schaffhausen lag seit der jüngeren Steinzeit an diesem 3000 Kilometer langen Handelsweg, verdiente mit Umladen, Transporten und Gebühren. […] Und Angus Maddison belegt in einer Studie der OECD, dass die Schweiz seit 1500 ein höheres Pro-Kopf-Einkommen erarbeitet als die Franzosen, oder die Deutschen. Ein armes Bauernland? Geheimnis über Geheimnis! (Beat Kappeler)
Die Worte Kappelers sind in diesem Zusammenhang vor allem als erkenntnisstiftende Antithese zur gängigen Meinung zu lesen. Natürlich übertreibt auch er in seiner Darstellung und wirkt deshalb zu einseitig – genauso wie das die allgemein akzeptierte Geschichtsfassung tut. Oft werden diese geschichtlichen Ereignisse und Entwicklungen allzu stimmig bewertet, in der Konsequenz dann aber auch zu einseitig. Paradoxe Tendenzen, die kaum je widerspruchslos aufgelöst werden können, werden zu wenig beachtet. Der geschichtliche Fortgang löst diese Widersprüche natürlich nicht auf, er ignoriert sie halt nur und geht stoisch seines Weges. In der Wiedergabe historischer Prozesses sollten wir uns aber davor hüten, ein zu sehr harmonisches Bild zu zeichnen. So war es auch im vorliegenden Fall keineswegs so, dass der Schritt zur grossflächigen Industrialisierung der Schweiz durch nationale Mobilkreditbanken logisch folgen musste, weil die Schweiz ein tatsächliches Armenhaus war. Denn für viele Schweizer war die Schweiz zu dieser Zeit wohl eben gar nicht arm gewesen. Es ist immer eine Frage der Perspektive. Aus unserer heutigen Warte erscheint es wohl fast jedem vernünftig, dass sich die Sicht Alfred Eschers durchgesetzt hat und die Schweiz es Europa in der Industrialisierung durch Mobilkreditbanken gleich getan hat. Doch hätte die damalige Schweiz wohl auch von Eschers Strategie absehen können und sie hätte sich dennoch prächtig und erfolgreich entwickelt – ohne die von Mobilkreditbanken flächendeckend vorangetrieben Industrialisierung. Schon Warren Blackman deutet in seiner interessanten Schrift «Swiss Banking in an International Context» an:
Die saint-simonistischen Kreditmotoren, die Mobilkreditbanken fanden in der Schweiz nicht die gleiche Akzeptanz wie in Frankreich. Und zwar aus dem überzeugenden Grund, dass Schweizer Klein- und Privatbanker die Schweizer Wirtschaft zu dieser Zeit schon mit genügend Kredit versorgten. Als James Fazy die Banque Generale Suisse de Crédit Foncier et Mobilier 1853 gründete, reagierten die bestehenden Banken negativ. So erklärte die renommierte Zeitung dieser Tage, die Basler Nachrichten, dass die bestehenden Kreditwünsche durch die bereits existierenden Banken befriedigt würden und zwar durch die Fristentransformation und eben nicht durch Kreditmengenausweitung. (Warren Blackman)
Anhand dieser Ausführungen und Zitate soll nicht etwa die Zeit vor der Industrialisierung und den Mobilkreditbanken romantisiert werden. Die Zitate dienen lediglich dazu, die heutige Kreditgeldausweitung und ihre weitreichenden Folgen durch Marktverzerrungen besser zu verstehen. Warum, weshalb und wie hat diese Kreditgeldmengenvermehrung ihren Anfang genommen? Diese Fragen sollen dazu anregen, darüber nachzudenken, inwiefern eine andere Entwicklung möglich gewesen wäre, die eben nicht zu einer Kreditgeldmengenausweitung heutigen Ausmasses geführt hätte.
Natürlich lässt sich Geschehenes nicht mehr rückgängig machen. Die Dinge haben nun mal ihren Lauf genommen. Verblüffend ist nur, dass ein «Radikal-Liberaler», der aus heutiger Perspektive eigentlich als Vorzeigezentralist einzuordnen ist, massgeblich dazu beigetragen hat, einer saint-simonistischen, genauer einer frühsozialistischen Idee in der Schweiz zum Durchbruch zu verhelfen – eine Innovation notabene die heute allgemein als kapitalistische Errungenschaft ausgegeben wird:
Die wichtigste Vorlage für die Errichtung von Grossbanken in der Schweiz gab schliesslich der Crédit Mobilier ab, dessen Wurzeln in Frankreich liegen. (Joseph Jung)
Dass sich Alfred Escher am Modell der Crédit Mobilier orientierte, steht ausser Frage. Deren unglaubliches Potenzial, eine Industrie im grossen Stil von zentralistischer Hand fördern zu können, wird er erkannt haben müssen. Dass die intellektuelle Inspiration für dieses «Finanzierungswerkzeug» aus sozialistische Feder stammte, wird ihm wohl nicht entgangen sein. Als pragmatischer Politiker konnte er sich allerdings nicht durch ideengeschichtliche Widersprüche in seinem Wirken und Schaffen beirren lassen. Gut möglich, dass Alfred Escher zwischen seinen «radikal-liberalen» Überzeugungen und den von ihm übernommenen frühsozialistischen Ideen Saint-Simons gar keinen Widerspruch gesehen hat. Letztlich hatte wohl die Entwicklung der Schweiz schlichtweg höheres Gewicht, und deshalb versuchte er diese trotz der politischen Widersprüche zu forcieren:
Der Crédit Mobilier setzte sich als Modell durch, und innert eines guten Jahrzehnts wurden in der Schweiz – teilweise mit deutscher Beteiligung – sechs bedeutende Banken nach dem Vorbild der Crédit Mobilier gebildet. (Joseph Jung)
Alfred Escher als verkappter Frühsozialist und Schweizer Vater des Finanz- und Industriekapitalismus also, der ideengeschichtlich eigentlich eine Ausgeburt des Frühsozialismus ist? Die Schweizer Ikone Escher in eine klare politische Schublade stecken zu wollen, gelingt kaum. Noch weniger hilft es, dem Eisenbahn-Pionier, Bankengründer und Nationalrat ein verschwörerisches Gemüt unterstellen zu wollen, wonach dieser zwar gegen aussen als «Radikal-Liberaler» aufgetreten sei, doch eigentlich frühsozialistische Überzeugungen gehabt hätte. Welche Gesinnung auch immer in Alfred Escher schlummerte, ein ideengeschichtlicher Rückblick fördert zutage: Wie so manch anderer «Radikal-Liberaler» forcierte er letztlich sozialistische Anliegen. Sehr treffend beschrieb Friedrich Engels diesen Umstand mit schon fast zynischer Genugtuung:
Die Herren (Liberale) glauben wirklich, sie arbeiten für sich selbst. Sie sind beschränkt genug zu glauben, dass mit ihrem Siege die Welt ihre definitive Gestaltung bekomme. Und doch ist nichts augenscheinlicher, als dass sie nur uns, den Demokraten und Kommunisten, den Weg Bahnen […] Kämpft nur mutig fort, ihr gnädigen Herren vom Kapital. Wir haben euch vorderhand nötig. Ihr müsst uns die Reste des Mittelalters und die absolute Monarchie aus dem Wege schaffen, ihr müsst den Patriarchalismus vernichten, ihr müsst zentralisieren, ihr müsst alle mehr oder weniger besitzlosen Klassen in wirkliche Proletarier, in Rekruten für uns verwandeln, ihr müsst uns durch eure Fabriken und Handelsverbindungen die Grundlage der materiellen Mittel liefern, deren das Proletariat zu seiner Befreiung bedarf. Zum Lohn dafür sollt ihre eine kurze Zeit herrschen… Aber vergesst nicht: Der Henker steht vor der Tür. (Friedrich Engels)
Gleichzeitig macht diese augenscheinliche Diskrepanz zwischen dem Etikett Eschers und dessen Wirken deutlich, wie wenig politische Lagerzuordnungen wirklich wert sind. Ideologien sind für viele Menschen nur oberflächlich wichtig. In ihrem Handeln lassen sich Menschen letztlich weniger durch ideologische Prinzipien als vielmehr durch praktischen Opportunismus leiten. Was nicht heissen soll, dass Ideen nicht das Denken der Menschen prägen und die Welt zu einem gewichtigen Teil formen. Doch sind es eben nicht einzelne Ideen, sondern es ist ein widersprüchliches Ideengemisch, wodurch die Welt als Folge menschlichen Handelns gestaltet wird. So ist es auch mit der heutigen Finanz- und Wirtschaftswelt. Es ist möglich, ihr die Verbindung zum Kapitalismus nachzuweisen, genauso wie man auf ihr sozialistisches Fundament verweisen kann (auch Begriffseinordnungen ergeben eigentlich wenig Sinn). Ob kapitalistisch, sozialistisch oder am ehesten beides zugleich, jegliche Art des ideologischen Zuordnens ist erkenntnisleere Begriffshudelei. Viel eher gilt es, die Kreditgeldausweitung nüchtern und ohne jegliche ideologische Scheuklappe wie in Teil 2 und 3 zu analysieren.
An dieser Stelle soll ein Aspekt noch nachgeliefert werden, der auch in die Zeit Eschers hineinpasst. Die damaligen Mobilkreditbanken setzten insbesondere auf die Ausgabe von Banknoten und Bankakzepten. Heute sind letztere kaum noch bekannt, doch haben sie bei der Kreditgeldausweitung im 19. Jahrhundert eine beachtliche Rolle gespielt. Der bereits mehrere Male zu Wort gekommene deutsche Ökonom Heinrich Rittershausen bestätigt dies:
Der Umlauf von Bankakzepten, «sagt der ausgezeichnete Bankdirektor und Praktiker Käferlein,» hatte bei uns riesigen Umfang angenommen. Soweit grosse, prosperierende Unternehmungen hieran beteiligt waren, bildeten häufig derartige Kredite die Vorläufer von Emissionen. (Heinrich Rittershausen)
Auch in der Schweiz erlebte das Bankakzept just zurzeit Eschers eine erste Blüte, wie Sigmund Levi in seiner Dissertation über die schweizerischen Grossaktienbanken schriebt:
Von noch grösserer Bedeutung als der Wechselverkehr war für die schweizerische Industrie das Trattengeschäft (Bankakzeptengeschäft) der Grossbanken. […] Ähnlich wie beim Wechselportefeuille fällt die starke Vermehrung der Bankakzepte während der Jahre 1863 bis 1876 auf. Das Bankakzept gewann in dieser Periode grosse Bedeutung im überseeischen Verkehr. (Sigmund Levi)
Das Bankakzept war eine Art Bankenwechsel, das die Bank dem zu finanzierenden Unternehmen ausstellte. Dieses konnte das Bankakzept dann wie ein Wechsel zur Bezahlung von Lieferanten und Kunden verwenden. Im Unterschied zu Händlern erzeugt eine Bank jedoch keine Konsumgüter und müsste daher vom Handelswechselgebrauch ausgeschlossen sein. Doch Banken wussten sich zu helfen und schufen einen anderen Wert zur antizipierten Deckung: Emissionen von Aktien der vorfinanzierten Unternehmungen. Der wache Geist erkennt jedoch schnell, dass eine Antizipation auf eine Deckung keine Deckung im eigentlichen Sinn ist, sondern ein Drahtseilakt, der aufgehen kann oder auch nicht. Nichtsdestotrotz sorgten Bankakzepte für eine Kreditgeldausweitung, da sie (Geld-)werte erzeugte, die zunächst noch keine reale Deckung hatten und sich erst noch zu bewähren hatten. Instrumente wie Bankakzepte führten schon damals dazu, dass Kreditgelder immer weniger auf realen Ersparnissen basierten.
Was in der damaligen Zeit schon zur Verstärkung der systematischen Ungleichheiten führte und letztlich antimarktwirtschaftliche Gegenreaktionen in Form unterschiedlichster Sozialismen hervorrief, hat heute ein gigantisches Ausmass erreicht. Gegenwärtig beruht ein überwiegend grosser Teil der Kreditgeldausweitung auf Schuldtiteln. Diese werden als Wertpapiere ausgegeben, was den Anreiz schafft, eine möglichst grosse Menge davon permanent ausstehend zu halten. Ähnlich wie bei den Bankakzepten wird etwas als Wertpapier ausgegeben, dessen Deckung nicht durch bereits geschaffene und gesparte Güter gewährleistet ist. Vielmehr werden Papiere in Antizipation von erst zu produzierenden Gütern in Umlauf gebracht. Finanzinstitute können so ihre Bilanz verlängern, ohne reale Gegenwerte aufzuweisen. Somit ist stets mehr «Geld» vorhanden, als es reale Ersparnisse hat. Dieser Umstand muss unweigerlich zu Verzerrungen und immer wieder zu Verwerfungen führen.
Heute werden diese weitreichenden Verzerrungen und Verwerfungen der Kreditgeldexpansion, die nicht nur die Wirtschaft, sondern auch Umwelt und Gesellschaft stark in Mitleidenschaft ziehen, gemeinhin ausgeblendet. Dies hat zur Folge, dass sich zahlreiche politische Debatten im Kreis drehen und ins Leere laufen, worauf bloss der allgemeine Frust über das Unvermögen der Politik wächst. In dieser Hinsicht ist die nüchterne Analyse und Anerkennung dieser monetären Dynamiken zwar erhellend, lässt sie einen nicht nur wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Prozesse besser verstehen. Gleichzeitig ist die Ableitung einer normative Wertung dieser monetären Phänomene allerdings kaum so trivial, wie man meinen könnte. Die Kreditgeldausweitung ist natürlich ungemein belebend für die Wirtschaft und hat enormen Wohlstand – besser Scheinwohlstand – geschaffen, der halt nur auf wackeligen Beinen steht und bei genauerem Hinschauen moralische Schönheitsfehler aufweist. Doch ist die Welt, in der wir leben, eben zutiefst paradox und von Dilemmata durchtränkt, die nicht lupenrein aufzulösen sind. Schon die Tatsache, dass die Strukturen der Welt heute von dieser schuldenfinanzierten Kreditgeldausweitung geprägt sind, ist auf eine paradoxe Begebenheit zurückzuführen: So haben in Europa gerade Dezentralismus und Steuerwettbewerb, die generell als Staatsfinanzierung einschränkende Instrumente angesehen werden, letzterer zum Durchbruch verholfen. Der Druck von Dezentralismus und Steuerwettbewerb hat die Staaten zur Ertragsoptimierung getrieben. Die Folge: Die Innovation der Kreditgeldausweitung in der europäischen Staatsfinanzierung.
Paradoxon über Paradoxon – doch das Erkennen derselben stiftet eben Erkenntnis. Folglich liegt der Schluss also nahe, dass auch die hier kritisch beleuchtete Kreditgeldexpansion die wohl furchtbarste fruchtbarste Katastrophe ist, die der Menschheit je hat passieren können. Es ist wohl der wirkungsvollste faustische Pakt, den die Menschheit je eingegangen ist, wie der Dichter und Universalgelehrte Johann Wolfgang von Goethe in seinen Maximen und Reflexionen erkannte:
Sowenig nun die Dampfmaschinen zu dämpfen sind, sowenig ist dies auch im Sittlichen möglich: die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergelds, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuern Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist.
Literatur:
Blackman, Warren. Swiss Banking in an International Context. New York: St. Martin's Press, 1989.
Engels, Friedrich. Die Bewegungen von 1847. Marx-Engels-Werkte, 1972.
Goethe, Johann Wolfgang. Maximen und Reflexionen. Helmut Koopmann (Hrsg.), Deutscher Taschenbuch Verlag und C.H.Beck, München 2006.
Jöhr, Walter. Schweizerische Kreditanstalt 1856 - 1956: Hundert Jahre im Dienste der Schweizerischen Volkswirtschaft. Zürich: Schweizerische Kreditanstalt, 1956.
Jung, Joseph. Aufstieg, Macht, Tragik. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2014.
Jung, Joseph. Alfred Eschers Briefwechsel 1852 - 1866. Zürich: Verlage Neue Zürcher Zeitung, 2013.
Jung, Joseph. Alfred Eschers Briefe aus der Jugend- und Studentenzeit 1831 - 1843. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2010.
Kappeler, Beat. Staatsgeheimnisse: Was wir über unseren Staat wirklich wissen sollten. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2016.
Levi, Sigmund. Der Geschäftskreis der schweizerischen Grossaktienbanken, mit besonderer Berücksichtigung der Geschäftsbeziehungen zu Industrie- und Eisenbahnunternehmen. Bern: Buchdruckerei Stämpfli & Cie, 1914.
Rittershausen, Heinrich. Arbeitslosigkeit und Kapitalbildung. Zugleich ein bankpolitisches Programm zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise. Jena, 1930.
Somm, Markus. Der Vaterlandsvater. Weltwoche, 2006.