Teil III - Gegenreaktion mit Revolutionspotential
Das Erscheinen des Bitcoin-Whitepapers unmittelbar nach dem Ausbruch der globalen Finanzkrise 2008 ist kaum als blosser Zufall zu werten. Der Finanzkollaps liess im Zuge der Ereignisse eine Frage wieder stärker in den Vordergrund treten: Geld regiert die Welt, doch wer regiert das Geld? Laut Satoshi Nakamoto, dem Pseudonym hinter Bitcoin, sind es die Zentral- und Geschäftsbanken dieser Welt.
Mit dieser Feststellung scheint Nakamoto nicht falsch zu liegen. Angefangen mit der industriellen Revolution hat die stetig wachsende Verflechtung zwischen Industrie, Staat und Banken ihren Lauf genommen. Immer grössere Industrieräume und -projekte bedingten eine immer stärkere Finanzmarktintegration und damit die Zentralisierung von Vertrauensstrukturen. Mit der digitalen Internetrevolution sind diese zentralisierenden Dynamiken bislang nochmals um einiges verstärkt worden. Der wohl grösste Nutzen dieser beeindruckenden Finanzialisierung: eine unglaubliche, noch nie dagewesene Wohlstandsexplosion in denjenigen Gebieten, wo dieser Prozess am weitesten vorangeschritten ist. Doch Nakamoto beleuchtet die Schattenseite dieser Entwicklung. So weist er darauf hin, dass Zentral- sowie Geschäftsbanken ihre hohe Stellung und das Vertrauen, das ihnen im Laufe der Zeit zugekommen ist, immer wieder missbraucht hätten.
Auch in diesem Punkt ist Nakamoto durchaus Recht zugeben. Immer mehr scheint ein Finanzkartell von Geschäfts- und Zentralbanken in Gott spielerischer Manier die Finanz- und Realwirtschaft minutiös administrieren und steuern zu wollen. Passieren Fehler, die angesichts der unlösbaren Steuerungs- und Lenkungsaufgabe zwingend sind, werden die Verluste der Allgemeinheit aufgebürdet oder über inflationistische Tarnmittel sozialisiert, während die Gewinne privatisiert werden.
Eine langersehnte Alternative
Als universeller, abstrakter Wertträger kommt dem Geld in unserer von Ungewissheit und Zufall geprägten Welt eine tragende Rolle zu. Denn liquide Mittel helfen uns für die ungewisse Zukunft und deren unerwartete Ereignisse vorzusorgen. Wird Geld bzw. die Verfügbarkeit und der Wert desselben unsicherer – eine Tatsache, die uns durch etliche Bank-Runs, die Rationierung von Bargeldabhebungen in Griechenland oder das komplette Einfrieren von Bankkonten in Zypern im Zuge der Finanzkrise vor Augen geführt wurde – steigt die Ungewissheit und damit das Gefühl schlummernder Hilflosigkeit. Die Suche nach Alternativen beginnt und führte schliesslich zur Entdeckung Bitcoins.
Doch nicht nur eine zunehmende Ohnmacht hinsichtlich Zukunftsangelegenheiten kann als problematischer Auswuchs unseres heutigen Finanzsystems angesehen werden. Eine weitere Problematik unserer zentralisierten Finanzstrukturen wird auch an einem anderen Beispiel ersichtlich.
Wikileaks ist eine der kontroversesten Organisationen überhaupt. Unterstützer argumentieren, dass sie mächtige Institutionen zur Rechenschaft ziehen würde, indem sie Informanten befähigt, anonym Beweise für unethisches Verhalten zu veröffentlichen. Kritiker halten dagegen, Wikileaks würde so nationale Sicherheit und internationale Beziehungen von Ländern bedrohen und gleichzeitig nur sehr ungleichmässig gegen Grossmächte vorgehen. Beide Ansichten haben denn auch einen Kern Wahrheit. Als Folge dieser Kontroverse begannen 2010 sodann mehrere der weltweit größten Zahlungsanbieter, darunter Visa, Master Card, Bank of America, PayPal und Western Union, Spendengeldzahlungen für Wikileaks einzustellen. Für die gemeinnützige Organisation, die auf Spenden angewiesen ist, war das ein herber Schlag. Das Unterbinden der Spendengeldzahlungen entbehrte jeglicher Rechtsgrundlage – Wikileaks war auch nicht wegen irgendeiner Straftat angeklagt, geschweige denn verurteilt worden. Selbst einige Kritiker mussten widerwillig zugeben: Diese Art von Zensur ist als gefährlicher Präzedenzfall zu werten.
Der Leser mag sich vielleicht nicht für Wikileaks interessieren. Letztlich handelt es sich dabei jedoch nur um ein Veranschaulichungsbeispiel. Es gibt unzählige andere gemeinnützige Organisationen, die anderen Interessensgruppen ein Dorn im Auge sind. Ob eine allgemein unbeliebte Organisation auf einer schwarzen Liste landet, hängt vielfach davon ab, wie das Tauziehen und die Ränkespiele im Polit-Zirkus ausgehen. Was also, wenn plötzlich eine Vereinigung unter die Räder gerät, die einem persönlich lieb ist?
Nicht nur mittels Zensur werden gewisse Parteien durch unser modernes Finanzsystem ausgeschlossen. Weltweit gelten immer noch zwei Milliarden erwachsene Menschen als «unbanked» und verfügen nicht einmal über ein einfaches Giro- oder Sparkonto, geschweige denn einen Zugang zu einem elektronischen Zahlungssystem wie Visa oder Master Card. In unmittelbar wird sich das auch nicht ändern, da traditionelle Banken aufgrund der herrschenden Sachzwänge kaum Anreize haben, diese Menschen grossflächig mit Dienstleistungen zu bedienen. Natürlich wird auch Bitcoin die genannten zwei Milliarden Menschen nicht von heute auf morgen aus der Armut herausholen. Schreitet die Technologie voran, dürfte diesen Menschen dennoch erstmals eine Tür offenstehen, die es bislang noch nicht gegeben hat.
Bitcoin und damit die breitere Krypto-Welt sind daher in ihren Ursprüngen ein Versuch, eine mögliche Alternative für oder gar Antwort auf die eben beschriebenen Entwicklungen und Probleme unseres Finanzsystems zu bieten. Insofern kann dieses neuartige Phänomen als eine Art Geld- oder Finanzreform gesehen werden. Doch unterscheidet sich diese «Reform» von anderen politisch motivierten, zentral orchestrierten Unterfangen wie Konventionalgelder, Vollgeld oder globalen UNO-Finanzreformen. Bitcoin wurde von keiner Partei lanciert, stieg ausserhalb der bestehenden Finanzstrukturen auf und erlangte seine zunehmende Bedeutung auf spontanem Weg durch den Zuspruch und die Wertschätzung einzelner Individuen. Es sind diese Punkte, die Bitcoin und Krypto im Allgemeinen weitaus erfolgreicher machen werden als konventionelle Geldreformen. Als Alternative bricht Bitcoin die eingesessen, zentralisierten Vertrauensstrukturen unseres Finanzsystems auf. Noch scheinen diese unsere Finanzmöglichkeiten nicht nur zu prägen, sondern regelrecht zu definieren, ist doch ein Bankkonto für komplexere und daher digitale Finanzangelegenheiten unerlässlich. Mit Krypto dürfte sich das ändern.
Ignorieren auf eigene Gefahr
Als Europäer, allen voran als Schweizer, scheint die Neuentdeckung von Bitcoin und Kryptowährungen wenig revolutionär zu sein, weshalb sie vor allem als Spekulationsobjekte abgetan werden. Hierzulande sind wir derart «overbanked», dass uns deren Nutzen kaum einleuchtet: Wir haben alle mehrere Bankkonten, Visa und/oder Mastercard, Twint, ein funktionierendes Bankensystem sowie den Schweizer Franken. Diese Dinge gilt es alle nicht kleinzureden, sind sie doch höchst schätzenswert. Allerdings sollte niemals vergessen gehen, dass keine vom Mensch geschaffene Idee, kein System und keine Institution für alle Ewigkeit in Stein gemeisselt ist. Denn auch in der Schweiz gehört einem das Geld auf dem eigenen Konto nicht endgültig, sondern der Kontoinhaber hat lediglich eine Forderung auf ein gesetzliches Zahlungsmittel gegenüber der Bank. Denn auch in der Schweiz sind Bank-, Visa- oder Mastercard-Transaktionen nicht irreversibel, sondern können immer, auch nachdem die Abwicklung bereits abgeschlossen ist, rückgängig gemacht werden. Denn auch in der Schweiz verfügen die Banken nur über magere Eigenkapitalquoten und mögen in ihren Bilanzen mehr faule Eier halten, als zum derzeitigen Zeitpunkt allgemein angenommen wird. Denn auch in der Schweiz hat sich die Nationalbank mit einer noch nie dagewesenen Aufblähung ihrer Bilanzsumme auf dünnes Eis begeben und tätigt derzeit ein Experiment, von dem niemand mit Klarheit sagen kann, wie es ausgehen wird. Wir sollten uns bewusst sein, dass – in unserer von Ungewissheit geprägten Welt – eine Phase langer Stabilität stets das Potenzial für Instabilität erhöht. Gerade weil wir uns finanziell stabile Verhältnisse und funktionelles Geld gewöhnt sind, sollten wir zur Vorsicht, Offenheit und Umsicht angehalten sein. Staatliche Papiergeldwährungen und deren elektronisches Derivat, das Buchgeld, waren in der Geschichte der Menschheit nicht immer Geld und werden es wohl auch nicht immer sein.
Letztlich ist es also diese Umsicht, Demut und Neugier, die einen das neue Krypto-Phänomen nicht kategorisch ablehnen lassen sollten. Bitcoin bietet die Möglichkeit, alleiniger Herr über einen Teil seines eigenen Geldes. zu sein: Wer über die entsprechenden Privatschlüssel auf die eigenen Bitcoin Zugriff hat, kann dies immer und ohne Einwilligung Dritter tun. Auch können einmal abgewickelte Bitcoin-Transaktionen durch niemanden mehr rückgängig gemacht werden. Ein jeder der seine Bitcoin selber hält, muss zudem nicht befürchten, dass diese im Hintergrund durch eine Drittpartei verliehen werden. Und letztlich gibt es bei Bitcoin auch keine Zentralbank, die das Angebot an Bitcoin manipulieren kann.
Bitcoin und andere Kryptowährungen werden von einigen gar als Schutz oder finanztechnisch gesprochen als «Hedge» betrachtet. Ob diese Ansicht gerechtfertigt ist, wird sich erst noch zeigen müssen. Kritiker von Bitcoin weisen mit Recht darauf hin, dass die Kryptowährung bislang nur das ungewöhnliche Marktumfeld seit der letzten Finanzkrise kennt. So haben Zentralbanken in den letzten zehn Jahren – also exakt während der bisherigen Lebenszeit von Bitcoin – mit ihrer ultraexpansiven Geldpolitik für eine regelrechte Alles-Blase bei den Vermögenswerten gesorgt. Gleichzeitig haben sie die Marktvolatilität in den Keller gedrückt und die Risikoeinpreisung auf den Finanzmärkten de facto eliminiert. Es stellt sich die berechtigte Frage: Wie wird sich Bitcoin in einer Rezession verhalten? Und wie wird der Bitcoin-Preis im Zuge eines möglichen Crashes an den Finanzmärkten reagieren? Das weiss niemand. Doch vielleicht könnte Bitcoin gerade den Unterschied machen, verkörpert er in seinen Ursprung doch die Antithese zu unserer heutigen Finanzwelt. Dass dieser anfängliche Geist noch schlummert und im Fall einer Krise manchen Anleger auf der psychologischen Ebene wieder einholt, darauf hoffen einige Krypto-Begeisterte. Die Chancen stehen nicht einmal so schlecht, wenn man bedenkt, dass Bitcoin bis lang immer zu überraschen vermochte.