Teil X - Bitcoin vs. Ethereum: Ein Kampf, der keiner ist
Als der Krypto-Markt noch im Januar bei einer Marktkapitalisierung von ungefähr 800 Milliarden Dollar stand, ist vielen Krypto-Enthusiasten das Wort der Bitcoin-Revolution allzu leicht über die Lippen gegangen. Heute, wo die Marktkapitalisierung noch etwa ein Viertel davon ausmacht und die Preise von ihren Allzeithochs in den Keller gestürzt sind, scheint bei vielen die Euphorie verflogen und die Revolution aufgeschoben.
Nur wenn man seinen Fokus nicht schwerpunktmässig auf die Kurse wendet und sich vergegenwärtigt, wie jung das Krypto-Phänomen noch ist, vermag man dessen revolutionären Errungenschaften so richtig zu erfassen. Denn obwohl die Krypto-Welt noch ganz am Anfang steht, hat sie bereits Einmaliges geleistet: Eine digitale Währung, die als «Digital Bearer Instrument» im Internet existiert und dabei auf einem eigenständigen Zahlungsnetzwerk ohne eine alles kontrollierende Zentralinstanz basiert, hat es vor Bitcoin noch nie gegeben. Auch der Umstand, dass Bitcoin abseits des Polit- und Wirtschaftsestablishments im Stile einer spontanen Ordnung zu einem 100 Milliarden Dollar Projekt werden konnte, lässt einen dessen revolutionären und einzigartigen Charakter würdigen.
Selbst über sein eigenes Habitat hinaus hat der Bitcoin neue Ökosysteme geschaffen – allen voran das Ethereum-Imperium. So waren es die Idee hinter Bitcoin sowie seine Kursgewinne, die dem Ethereum-Projekt anfänglich Leben einhauchten. Von Juli bis August im Jahr 2014 lancierte die Ethereum-Foundation ein Initial Coin Offering, um mit ihrem Konzept bei Bitcoin-Besitzern zu werben. Nur wer sich von einem Teil seiner Bitcoin trennte, konnte diese für Ether – der Coin des Ethereum-Netzwerkes – hingeben und so in die Vision des heute zweitgrössten Krypto-Assets investieren.
Das Superhirn hinter Ethereum ist Vitalik Buterin. Auf Bitcoin stiess der Russisch-Kanadier im zarten Alter von 17 im Februar 2011, als sein Vater ihn auf die Kryptowährung aufmerksam machte. Bald darauf faszinierte ihn das Bitcoin-Projekt und Buterin begann, sich immer intensiver damit auseinanderzusetzen. Mit der Zeit ging die Faszination auch in das Bestreben über, eine Limitation Bitcoins zu beseitigen, die Buterin ausgemacht zu haben glaubte. Das Wunderkind stellte fest: Obschon Bitcoin ein beeindruckendes Stück Programmiercode ist, entwickelte kaum jemand Applikationen auf Bitcoin. Und dies schien so beabsichtigt zu sein.
Seit Anbeginn der Bitcoin-Blockchain bestand deren Hauptaufgabe darin, eine möglichst sichere Übertragung von digitalen Werten zu ermöglichen. Um diese Ziel keinesfalls unnötig zu gefährden, wurde dem Bitcoin eine möglichst rudimentäre, dafür aber umso robustere Skriptsprache zugrunde gelegt. Damit Entwickler besser in der Lage wären, auf dem Bitcoin-Protokoll einfacher neue Software zu programmieren, bräuchte es eine komplexere Skriptsprache, eine sogenannte Turing-vollständige Programmiersprache, ersann das Computergenie. Natürlich würde bei einer solchen programmierbare Blockchain auch die Fehleranfälligkeit steigen, konterten einige Kritiker auf den Ansatz Buterins.
Als Vitalik die Bitcoin-Community von seinen Änderungsversuchen nicht zu überzeugen vermochte, setzte er seine Ideen deshalb mit einem kleinen Kreis von ihm vertrauen Leuten in die Tat um. Nachdem der Code programmiert war und mittels Initial Coin Offerings Bitcoin zu einem Wert von damals 18 Millionen Dollar eingenommen wurden, wurde am 30. Juli 2015 der erste Ethereum-Block kreiert.
Falsche Dichotomie
Wie schon Bitcoin zuvor, zog auch Ethereum immer mehr Leute in seinen Bann – insbesondere eine grössere Anzahl Software-Entwicklern machten nun ihren ersten Schritt in die Krypto-Welt. Aufgrund des steigenden Interessens schoss auch der Ether-Preis regelrecht durch die Decke und die Rivalität zwischen den beiden Camps nahm zu. Einige Bitcoin-Anhänger – durch den Preisaufschwung bei Ether sichtlich verunsichert – sahen in diesem neuen Krypto-Asset einen billigen Abklatsch Bitcoins, das den eigentlichen Krypto-Wert kaum mehr treu sei. Aufseiten Ethereums sprachen einige Exponenten hingegen bereits davon, dass die programmierbare Blockchain dem Bitcoin haushoch überlegen sei und erstere letztere deshalb eher früher als später obsolet machen würde. Noch heute bekämpfen sich die beiden Lager in Internetforen, auf Twitter oder an Konferenzen. Während Ethereum-Maximalisten Häretiker geschimpft werden, werden Bitcoin-Maximalisten als die Fundis der Krypto-Welt gebrandmarkt.
Dieser Zirkus um den Titel «Einzig wahre Blockchain» ist letztlich nichts als ein clowneskes Scheingefecht. Denn Bitcoin und Ethereum sind überhaupt keine direkten Kontrahenten, verfolgen sie doch andere Ziele. Als unabhängiges Wertaufbewahrungsmittel muss die Bitcoin-Blockchain grösstmögliche Sicherheit bieten. Das impliziert, dass Bitcoin notwendigerweise auf einer rudimentäreren Skriptsprache beruhen muss, die weniger Programmierungsmöglichkeit offenlässt, gleichzeitig aber auch die Anfälligkeit für Programmierfehler, sogenannte «Bugs» einschränkt.
Der Zweck von Ethereum liegt gewissermassen darin, diesen Trade-Off genau gegenteilig aufzulösen. Einer grösseren Experimentierbarkeit und Flexibilität in der Programmierfähigkeit der Blockchain wegen wird auf der Ebene des Quellcodes auch eine grössere Fehleranfälligkeit in Kauf genommen. Ereignisse wie der DAO-Hack, der Parity-Bug und anderer Rückschläge, die letztlich auf Programmierfehler zurückzuführen sind, dokumentieren das. Weil der Ethereum-Ansatz programmiertechnisch viel mehr zulässt, erscheint dessen Use-Case einiges breiter, was viele Ethereum -Begeisterte schliessen lässt, in Ethereum das langfristig lukrativere Projekt zu sehen. Ob sich diese Ansicht bewahrheiten wird, kann nur die Zeit zeigen.
Kampfansage an die Kapitalmärkte
Ethereum wird heute insbesondere für den ICO-Hype von Ende 2017 verantwortlich gemacht. Dabei ist der Ton nicht selten etwas vorwurfsvoll, zeichnet sich doch für viele mittlerweile ab: Nicht nur haben Investoren in dieser Spekulationshausse viel Geld verloren, sondern wurden sie auch von etlichen ICO-Betrügern und Krypto-Scharlatane an der Nase herumgeführt. Vor lauter Kritik am ERC20-Token-Standard geht jedoch vergessen: Dank dieses Standards kann eine jede Person – mittels ICO oder Token Sale – ihren eigenen Token zu geringen Kosten lancieren, ohne sich um den Aufbau einer aufwendigen Blockchain-Infrastruktur kümmern zu müssen.
Der Begriff «ICO» steht für Initial Coin Offering und ist eine Anlehnung an das Initial Public Offering (IPO). Letzteres machen Unternehmen, wenn sie an die Börse gehen. Die Verlockung liegt nahe, ein ICO als das digitale Pendant zum klassischen Börsengang zu sehen. Korrekt ist das nicht. Wer einen Token kauft, erwirbt damit nicht automatisch Unternehmensanteile. Zudem gewährt eine Aktie Dividende und Stimmrecht. Beides ist auch mit Tokens möglich – doch ist das bei weitem nicht immer der Fall, kommt es doch auf die Art des Tokens an. Gleichzeitig ist auch die rechtliche Lage noch kaum geklärt, da einige dieser Token-Arten für den Regulator Neuland darstellen und daher zuerst abschliessend beurteilt werden müssen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Sachlage in Zukunft eindeutiger gemacht werden wird, um das ICO dem IPO in gewissen Aspekten gleichzumachen.
Im zweiten Quartal 2018 betrug der ICO-Markt 45 Prozent bzw. 31 Prozent der traditionellen IPO- und Risikokapitalmärkte, gegenüber 40 Prozent bzw. 30 Prozent im ersten Quartal 2018. Offiziellen Zahlen zufolge betrug das ICO-Volumen im zweiten Quartal 2018 rund 7,2 Milliarden US-Dollar, während der US-IPO-Markt 16,0 Milliarden US-Dollar und die US-Venture-Capital-Märkte 23 Milliarden US-Dollar im gleichen Zeitraum ausmachten. Obschon die ICO-Einnahmen in den Sommermonaten 2018 abnahmen und sich im September nur noch auf etwas über 31 Millionen Dollar beliefen, wird sich das ICO künftig in irgendeiner Art und Weise etablieren.
Es ist also Ethereum, das die Möglichkeit des Crowdfunding auf eine ganz neue, eine globale Ebene gebracht hat. Dass diese neue Form der Unternehmensfinanzierung ab dem April 2017 einen derart kometenhaften Aufstieg erlebte, mag folgenden Grund gehabt haben: Mittels ICO lässt sich eine (Unternehmens-)Finanzierung auf einmal effizient, schnell und eigenständig über das Internet durchführen. Auch können potentielle Investoren aller Kategorien – das heisst vom professionellen Anleger bis zum Hobby-Investor – auf der ganzen Welt angesprochen werden.
Im Vergleich dazu sind die traditionellen Kapitalmärkte stramm durchreguliert. Rechtliche Auflagen machen das Fundraising – selbst für ausserbörsliche Beteiligungen – sehr aufwändig. Risikokapitalgeber investieren nur, wo ein minutiös ausgearbeiteter und Erfolg verheissender Meilensteinplan existiert. Gleichzeitig hat die Kapital suchende Partei unterschiedliche Verpflichtungen einzugehen. Die ICOs waren und sind deshalb eine willkommene Alternative, um den aufgeblähten Transaktionskosten der offiziell regulierten Finanzwelt aus dem Weg zu gehen. Es gibt keine Versicherer, Treuhänder, Übertragungsagenten, Börsen, Depotstellen, Clearingstellen oder Zentralverwahrer, die an ICOs beteiligt sind und auch ihren Anteil verdienen wollen. Die Token-Trades sind zudem instantan und haben kein Gegenparteirisiko. Die Möglichkeit, diese Aufwandskosten umgehen zu können, schien bei den Anlegern so richtig Anklang zu finden, ansonsten hätten die ICO-Investoren wohl kaum die Bereitschaft gezeigt, für diese niedrige Aufwandskosten auf die regulatorisch implementierten «Schutzmassnahmen» zu verzichten.
Auch wenn diese neue Finanzierungsmethode von vielen Skandalen und Betrügereien geprägt ist, sollte das ICO dennoch als revolutionärer Akt der Selbstbefreiung verstanden werden. Denn nie zuvor konnte ein 16-jähriger aus Brasilien, Indien oder China ein paar Dollar in ein möglicherweise erfolgreiches Zukunftsunternehmen aus der Schweiz, Israel oder Singapur stecken. Wie immer bei Revolutionen kommt es auch zu Übertreibungen, und manch Involvierter treibt eine begrüssenswerte Sache bis zum Exzess. Wie alles auf unserer Welt, haben auch die ICOs zwei Seiten, von denen man die eine nicht verharmlosen, die andere aber auch nicht ungewürdigt lassen sollte.
Während also Bitcoin die Geldschöpfung durch zentrale Entitäten wie Zentralbanken und Geschäftsbanken infrage stellt, liegt die revolutionäre Kraft Ethereums heute darin, eine echte Alternative zum zentralistisch organisierte Kapitalmarkt ermöglicht zu haben. Denn seit jeher fungieren Investmentbanken als Vermittler zwischen Vermögensverwaltern und Staaten oder Unternehmen, die eine Anleiheemissionen machen oder über ein IPO Aktien ausgeben wollen. Vor Ethereum gab es technisch keine Möglichkeit, diese Finanzintermediäre zu umgehen. Heute gibt es sie. Noch spüren Investmentbanken von dieser disruptiven Kraft wenig. Ganz anders die Risikokapitalgeber. Deren Geschäftsfeld wird gerade auf den Kopf gestellt, weshalb es nicht mehr ungewöhnlich ist, Risikokapitalunternehmen wie Andreessen Horowitz oder Union Square Ventures auf Pre-ICO-Investorenlisten zu finden. Die Aushängeschilder des Risikokapitalgebertums haben also bereits auf die «Ethereumisierung» des Investierens reagieren müssen – ein Schicksal das der Wall Street noch blühen könnte.