Neymar und die verkannte Wurzel des Problems
August 2016: Manchester United erklärt sich bereit, 120 Millionen Euro für den französischen Starfussballer Paul Pogba hinzublättern. Die Fussballwelt ist geschockt, ihr geliebter Fussball ausser Rand und Band geraten.
Ein Jahr später muss man über die 120 Millionen schon fast lachen, derart lächerlich wirken sie neben der fast doppelt so hohen Summe von 222 Millionen Euro, für welche das brasilianische Aushängeschild Neymar zum französische Fussballclub Paris St-Germain wechselt. Natürlich grenzt dieser neue Rekordtransferbetrag an irrwitzige Komik – doch zum Lachen ist niemandem zumute. Einige haben die Hoffnungen in den Fussball schon aufgeben und nehmen solche Wahnsinnsbotschaften einfach nur noch kopfschüttelnd hin. Andere erbosen sich über diese kapitalistischen Schweinereien und fordern restriktive Regulierungen. Und wieder andere verstehen den Tumult um den Transfer nicht und beharren stattdessen darauf, diesen als normale Markttransaktion auf der Grundlage von Angebot und Nachfrage zu sehen, an der folglich nichts auszusetzen sei.
Die einzelnen Reaktionen sind überaus verständlich, und doch scheinen sie alle bloss an der Oberfläche zu kratzen. Dass man über die gegenwärtigen Entwicklungen enttäuscht sein mag, und diese Enttäuschung bisweilen in Zorn umschlägt, ist verständlich. Die Geldbeträge, die heute auf Finanz-, Kapital- oder eben Transfermärkten über den Tisch gehen, sind kaum noch fassbar und scheinen jeglichen Gesetzen des Masshaltens zuwiderzulaufen. Für viele hat sich dieser von Gier getriebene Wettlauf zu immer mehr Geld, Luxus und Besitz schon längstens von der Realität abgekoppelt.
Wann immer sich die eine Seite über diese wild gewordenen Zustände des entfesselten Mammons aufregt und zur Kritik ansetzt, wittert die andere Seite die ewige Kapitalismusschelte und fühlt sich daher verpflichtet, reflexartig Gegensteuer zu geben. Textbuchartig gibt diese Seite wider, was sie in Wirtschaftsseminaren gelernt hat: Die freiwillige Markttransaktion zwischen zwei Parteien geht keinen Aussenstehenden etwas an, sie ist stets gerechtfertigt und daher über alle moralischen Zweifel erhaben.
Wenngleich dieses Axiom logisch stimmig ist, so versucht dieser Ansatz theoretisch zu rechtfertigen, was praktisch kaum noch gilt. Wer im Falle der 222 Millionen Transfersumme von einem Marktpreis spricht, verkennt, dass dieser Begriff in der Realität unlängst nur noch Fassade ist. Ein sogenannter Marktpreis kommt heute unter derart vieler monetärer Verzerrungen zustande, dass fraglich ist, ob fairerweise überhaupt noch von einem Markpreis gesprochen werden kann.
Tut man es doch, ist der Sache wenig gedient. Überaus verzerrte, kaum noch marktwirtschaftlichen Kriterien genügende Zustände mittels theoretisch fundierter Marktlogik legitimieren zu wollen, bringt bloss die Marktlogik – die durchaus ihren rechtmässigen Platz in der Welt der Ideen hat – unnötig in Verruf.
Weder die eine noch die andere Seite in der Debatte macht sich die Mühe, in der Analyse der Gegebenheiten etwas tiefer zu graben. Wer die Zustände ein wenig besser verstehen will, um die richtigen Schlüsse ziehen zu können, kommt um eine tiefgreifende Analyse nicht umhin.
Im Fall von Neymars Transfer zu Paris St-Germain sind vor allem die Besitzer des französischen Fussballclubs etwas genauer zu betrachten. 2011 wurde der Verein zu 70 Prozent von den Katari übernommen. Ein Jahr später folgte die ganzheitliche Übernahme. Seither ist Paris St-Germain in vollumfänglichem Besitz katarischer Investoren – genauer gesagt im Besitz von Oryx Qatar Sports Investments (QSI). Dabei handelt es sich um eine Unterorganisation des katarischen Staatsfonds. Als einer der grössten Staatsfonds weltweit verfügt dieser über mehrere Zweigstellen. Neben der QSI ist die wichtigste dieser Zweigstellen der QIA, was für Qatar Investment Authority steht. Das Sovereign Wealth Center – die führende Informationsstelle für Staatsfonds – schreibt in ihrer Beurteilung des QIA:
Der QIA behauptet nach wie vor seine Stellung als wichtigster Teil innerhalb des katarischen Staatsfonds. Obschon kaum je Informationen über die Investmentstrategie oder Besitzanteile veröffentlicht werden, ist es kein Geheimnis, dass der QIA weltweit investiert ist. Stärker als jeder andere Staatsfonds verfolgt der QIA eine Strategie des direkten Investments. So gehören Luxusmarken, erstklassige Liegenschaften, Rohstoffe sowie – seit der Finanzkrise – Banken zu den Vorlieben des QIA. […] Während einer Konferenz in Doha 2012 gab der «capital director» Hussain al-Abdulla bekannt, dass der Fonds weitaus über 100 Milliarden Dollar verwalten würde. Das Sovereign Wealth Center schätzt die Vermögenswerte des QIA auf ungefähr 135 Milliarden Dollar. (Sovereign Wealth Center)
Der katarische Staatsfonds ist ziemlich komplex aufgebaut, er verfügt über die unterschiedlichsten Unterorganisationen. Im Bereich der Anlage macht eine solche Aufspaltung in rechtlich unabhängige Subgruppen Sinn, um die Risiken besser streuen zu können. Die Qatar Holding – wiederum eine Tochtergesellschaft der QIA – hält unter anderem Anteile unterschiedlichster Finanzdienstleister und sonstiger bekannter Unternehmen:
Qatar Holding deckt eine breite Palette bestimmter Sektoren ab, die der QIA seit jeher auf seiner Wunschliste führt. Zum Beispiel verwaltet die Qatar Holding den Grossteil an Finanzinstituten wie «Agricultural Bank of China», «Barclays», «Credit Suisse», «Grupo Santander Brasil». Zudem hält die Qatar Holding auch substantielle Anteile von «Canary Wharf Group», «J Sainsbury», «Hochtief», «Lagadère», «Porsche Automobil Holding» und «Volkswagen». (Sovereign Wealth Center)
Wie intensiv die einzelnen getrennten Unterorganisationen innerhalb des katarischen Staatsfonds auch in finanzieller Hinsicht zusammenarbeiten, ist kaum abzuschätzen. Dass eine mögliche Kooperation auch untereinander stattfinden könnte, verdeutlicht folgender Hinweis auf der Website der QSI:
Mit dem Ziel den Sport, die Freizeitaktivitäten sowie den Unterhaltungssektor Katars zu fördern, ist der QSI befugt, unabhängig oder in der Zusammenarbeit mit anderen Investmentpartnern zu wirken, so die Verlautbarung auf der Webseite des QSI. (Sovereign Wealth Center)
Die grob schematische Aufgliederung des katarischen Staatsfonds vermag ansatzweise zu veranschaulichen, wie stark der Fonds in die internationalen Finanzmärkte eingebunden ist. Und genau diese Tatsache darf in der Beurteilung des jüngste Transfercoup um Neymar nicht ausser Acht gelassen werden. Die internationalen Finanzmärkte und mit ihnen die unterschiedlichsten Vermögenswerte sind heute über eine Kreditgeldmengenausweitung gewaltig aufgebläht. Kreditgeld basiert heute kaum noch auf realen Ersparnissen oder «produktiven Schulden». Der überwiegende Teil ist schuldenfinanziertes Kreditgeld, für dessen Tilgung weder die Absicht noch die Mittel überhaupt vorhanden sind. Dieses Kreditgeld ohne jegliche reale Basis treibt heute Sachwerte wie Maschinen und Gebrauchsgüter als auch Finanzwerte wie Aktien oder Anleihen in die Höhe. Als Besitzer, Verwalter oder Emittent solcher Sach- und Finanzwerte erfahren auch Unternehmen eine Wertsteigerung, die auf diese Kreditgeldmengenausweitung zurückzuführen ist.
Es ist diese Schieflage zugunsten des schuldenfinanzierten Kreditgeldes, die zu immer grösseren Verzerrungen führt und sich über immer weitere Ebenen durch Wirtschaft und Gesellschaft fortpflanzt. So ist auch die horrend hohe Transfersumme für Neymar ein Kind dieser schuldenfinanzierten Kreditgeldmengenausweitung. Denn auch die Vermögenswerte des auf den internationalen Finanzmärkten stark investierten katarischen Staatsfonds profitiert von dieser «künstlichen» Aufblähung durch die Kreditgeldschwemme. Die inflationierten Finanzmärkte machten den katarischen Staatsfonds reicher, als dieser sein könnte.
Kritiker mögen an dieser Stelle entgegen halten: Nicht aufgeblasene Finanzmärkte und Vermögenswerte finanzieren Neymars Transfer, sondern Erdöl. Und damit haben sie sicher nicht unrecht. Doch gerade beim Erdöl sollte etwas tiefer gebohrt werden. Dass auch Erdölverkäufe aus Katar durch die aufgeblähten Finanzmärkte angeheizt werden, ist nachvollziehbar. Die schuldenfinanzierte Kreditgeldmengenausweitung ermöglicht es, die weltweite Produktionskapazität für Kraftwerke, Maschinen, Fahr- und Flugzeuge, aber auch allerlei Plastikgegenstände und Kosmetikprodukte, die allesamt Erdöl zur Fertigung benötigen, beliebig anzukurbeln.
Die erdölfördernden Staaten verkaufen so in einem «unnatürlich» überhöhten Mass Erdöl, was ihnen «unnatürlich hohe» Erlöse beschert. Der Begriff «unnatürlich» ist etwas irreführend und daher auch in Anführungszeichen gesetzt. Gemeint ist, dass ein überwiegend grosser Teil der heutigen Kreditgeldmengenausweitung auf Schuldtiteln beruht. Diese Schuldtitel werden als Wertpapiere ausgegeben, was den Anreiz schafft, eine möglichst grosse Menge davon permanent ausstehend zu halten. Es ist stets mehr «Geld» vorhanden, als es reale Ersparnisse hat. Dieser Umstand muss unweigerlich zu Verzerrungen und immer wieder zu Verwerfungen führen. Insofern sind die gegenwärtigen Zustände als «unnatürlich» zu verstehen, als dass die Kreditgeldmengenausweitung und damit auch die Verzerrungen und Verwerfungen in ihrer heutigen Art so nicht sein müssten.
Die Betonung des Wortes «müssten» im vorigen Satz weist auf dieses Dilemma unserer Zeit hin. Das Phänomen der Kreditgeldmengenausweitung in seiner ganzen Dimension ist heute kaum verstanden, geschweige denn die historischen Zusammenhänge. Gerade deshalb ist die aktuelle Debatte – nicht nur im Fall Neymar – wenig fruchtbar. Wären die Hintergründe, Wechselwirkungen und Bedeutung allgemein wenigstens ein bisschen besser verstanden, bestünde zumindest theoretisch die Möglichkeit, über die Vor- und Nachteile der Kreditgeldmengenausweitung etwas nüchterner zu diskutieren. Und mit ein wenig viel Glück liessen sich dann vielleicht sogar Schritte in die richtige Richtung machen, was auch den Fussball wieder gesunden lassen würde.